Ich muss sagen, dass beide Spieler bei dieser WM leider keine Werbung für den Schachsport betreiben. Wurde bei Carlsen - Anand die Berlin Defense als patente Verteidigung in der Ruy Lopez reetabliert passiert diesmal hingegen garnix. Meist ziemlich ähnliche Eröffnungsmuster, beide Spieler sehr auf Sicherheit bedacht und siegchancen kommen eher durch patzer des Gegners zustande als durch eigene taktische Kombinationen. Viel schlimmer finde ich eigentlich nur noch wie regelmäßig Carlsen und Karjakin Sieg- oder Remischancen übersehen. Ein Turnier doch auf recht schwachem Niveau. Bei Karjakin kann man vielleicht noch sagen, dass er halt "nur" Rang 9 der welt und kein super-gm wie Carlsen oder Aronian ist. Aber Carlsen ist definitiv nicht in Form. Glaube ich war er aber die letzten Monate über nicht. Passt also irgendwie alles.
Gebe Dir in weiten Teilen recht. Die Berliner Verteidigung wurde allerdings bereits im WM-Match zwischen Kasparov und Kramnik reaktiviert und ist seit damals eine beständige Seuche auf Spitzenniveau. Wenn man es genau nimmt, ist die Erfolgsquote für Schwarz gar nicht viel höher als in anderen Eröffnungen, aber das Remis-Potential ist enorm, somit eine ideale Waffe auf höchstem Niveau, um mit Schwarz Remis zu spielen. Und das ist genau das, was die Spitzenspieler heutzutage mit Schwarz wollen. Man kann ja fast dankbar sein, dass Carlsen einer der wenigen Spitzenspieler ist, der die Berliner Verteidigung so gut wie nie spielt.
Was das Niveau anbelangt, sehe ich es auch so, dass es für ein WM-Match relativ niedrig war. Enttäuscht war ich insbesondere davon, dass von Karjakin überhaupt keine überraschenden Akzente in der Eröffnung gesetzt wurden (von Carlsen war das zu erwarten). Ansonsten spielt Karjakin schon in etwa das, was er kann, wobei er bewusst sehr sicherheits-orientiert spielt und Siegchancen vor allem daraus zu generieren hofft, dass Carlsen "überzieht" - was zwar für den Zuschauer extrem langweilig und nervig ist, aber im Sinne des Erfolgs meiner Meinung nach eine sehr schlaue Strategie ist. Was Carlsen angeht, muss man einfach festhalten, dass er zwar nicht grundsätzlich auf Sicherheit bedacht (Ausnahme Partie 12), aber ziemlich außer Form ist und deutlich unter seinen Möglichkeiten spielt. Partie 3 und insbesondere Partie 4 gewinnt er in Bestform zu 95%. Erschreckend auch, dass beide in Carlsens Gewinnpartie einen recht einfachen Remisweg für Karjakin übersahen - und mit "einfach" meine ich tatsächlich, dass diese Abwicklung schon die meisten Amateure mit 1800-2000 ELO sehen würden.
Die Partien an sich fand ich trotz des relativ "schwachen" Niveaus aber ziemlich interessant. Trotz der hohen Remisquote gab es doch eine Reihe von Partien mit viel Substanz und überraschenden Wendungen. Der Unterhaltungsfaktor war für mich jederzeit gegeben, und ich freue mich auch auf heute abend. Interessant war die Entscheidung von Carlsen, die letzte Weiß-Partie abzuschenken und statt dessen auf seine Stärke im Schnellschach zu setzen. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung war. Carlsen ist wahrscheinlich der beste Schnellschachspieler der Welt, aber nun gibt es wieder 2x Weiß und 2x Schwarz, und Karjakin ist ein sehr guter Schnellschach- und Blitzspieler.
Meiner Einschätzung nach ist Carlsen zwar auch im Schnellschach besser, aber der Spielstärke-Unterschied zwischen beiden ist im Schnellschach und Blitzschach weniger groß, und generell glaube ich, dass der schwächere Spieler bei geringeren Bedenkzeiten immer eine bessere Chance hat als bei größeren Bedenkzeiten. Karjakin hat darüber hinaus eine sehr gute Kondition und extrem gute Nerven, und all das wird heute abend eine Rolle spielen, zumal alle vier Partien relativ rasch hintereinander gespielt werden, das wird ziemlich an die Substanz gehen.